Das stille Sterben in unseren Flüssen – warum die Biodiversitätskrise dramatischer ist als gedacht

Prof. Dr. Klement Tockner, international führender Gewässerökologe, im Interview – seine Forschungsschwerpunkte sind Biodiversität, Flussgebietsmanagement und die Bedeutung der Wissenschaften für die Gesellschaft. Mehr zu seiner Person lesen Sie am Ende dieses Blogeintrages. Wir haben ihm einige Fragen zum Thema Artensterben gestellt.

Alles spricht über die Erderwärmung, viel weniger wird über das Artensterben diskutiert. Wie dramatisch ist die Situation aus Ihrer Sicht, vor allem wenn es um Gewässer geht?

Der Verlust der biologischen Vielfalt – der Vielfalt des Lebens – ist die größte Herausforderung, vor der wir als Menschheit stehen. Einerseits bildet diese Vielfalt die wesentliche (Über-)Lebensgrundlage für uns Menschen, andererseits ist der Verlust unumkehrbar. Und die Lage ist dramatisch: Bis zu 2 Millionen Arten sind vom Aussterben bedroht, von etwa acht Millionen geschätzten Arten. Erderwärmung und Biodiversitätsverlust sind eng miteinander gekoppelt. Maßnahmen zur Verbesserung der biologischen Vielfalt kommen durchwegs dem Klimaschutz zugute. Einseitige Maßnahmen für den Klimaschutz hingegen können sich fatal auf die Biodiversität auswirken. Gerade die Gewässer sind besonders geschundene Lebensräume, da diese durch übermäßige Verbauung, Verschmutzung und Übernutzung geprägt sind. So findet sich in Mitteleuropa im Durchschnitt eine Barriere pro Flusskilometer.

Wenn wir die heimischen Gewässer in Österreich und in Tirol anschauen, dann ist der Fischbestand an vielen Stellen weit unter dem ökologischen Referenzwert. Eine Reihe von Arten – wie etwa der Huchen – sind akut vom Aussterben bedroht. Kann man da überhaupt noch gegensteuern?

Selbstverständlich – aber dafür benötigt es auch mutige Maßnahmen. Eine Wiederherstellung der Durchgängigkeit – auch lateral und vertikal, und großflächige Aufweitungen können wirksam sein. So hat die Entfernung des Klamath-Damms im Norden von Kalifornien innerhalb kürzester Zeit zu einer Erholung der Lachsbestände geführt. Aber je länger wir warten, desto schwieriger wird es, gegenzusteuern.

Und was wären die dringendsten Maßnahmen? Was müsste konkret verordnet und veranlasst werden, um die Biodiversitätskrise in den Griff zu bekommen?

Die Ziele und Maßnahmen wurden ja im internationalen Kunming-Montreal Abkommen und im europäischen Renaturierungsgesetz beschlossen, dass also beispielsweise 30% der Land- und Gewässerflächen unter Schutz gestellt und wertvolle Lebensräume wiederhergestellt werden sollen. Für die Gewässer bedeutet es, dass das Verschlechterungsverbot eine höhere Priorität als das Verbesserungsgebot haben muss. Es muss als erster Schritt alles getan werden, um die letzten Wildflusslandschaften langfristig zu erhalten und die langen frei fließenden Abschnitte – wie entlang der Salzach und des Inn – großräumig zu renaturieren. Gewässer benötigen Raum. Eine Halbierung des Pestizideintrags, die Umwidmung umweltschädigender Subventionen und ein natur-positiver Hochwasserschutz sind weitere, dringende Maßnahmen.

In Tirol gibt es viele Wasserkraftwerke, die mit ihrem Schwall-Sunk, Kraftwerksspülungen und Restwasserstrecken schwerwiegende Folgen für die Gewässerökologie haben. Diese Kraftwerke erzeugen aber auch emissionsfrei Strom. Ein klassisches Dilemma? Und wie könnte man es lösen? Gibt es überhaupt gewässerverträgliche Kraftwerke?

Wasserkraftwerke bedeuten einen massiven Eingriff in die Natur. Sie produzieren zwar erneuerbare Energie, sind aber keineswegs naturfreundlich. Zudem sind sie auch nicht klimaneutral, da Stauseen wesentliche Quellen von Treibhausgasen sein können. Eine Optimierung bestehender Anlagen, keine weiteren Kraftwerke entlang der letzten naturnahen oder frei fließenden Gewässer, Kleinkraftwerke nur in Ausnahmefällen sowie keine Subventionen hierfür und nicht zuletzt der gezielte Rückbau bestehender Dämme sind wichtige und machbare Schritte. Einseitiger Klimaschutz, etwa durch den Ausbau der Wasserkraft, kann sich hingegen fatal auf die Biodiversität auswirken.

Viele Jahre hat man Flüsse und Gewässer systematisch verbaut und damit Lebensräume von Fischen und Amphibien verschwinden lassen. Jetzt gibt es immer mehr Renaturierungen bzw. Renaturierungsversuche. Ist das ein erfolgversprechender Weg bzw. in welchem Ausmaß müssten solche Renaturierungen sinnvollerweise umgesetzt werden?

Umfangreiche Auswertungen von Renaturierungsprojekten haben gezeigt, dass eine Wiederherstellung nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist. Zumeist sind die Maßnahmen zu kleinräumig, weitere Belastungen bleiben bestehen und der Klimawandel wird ein zunehmend prägender Treiber. Wie betont: Gewässer sind offene, dynamische und vernetzte Ökosysteme. Das erfordert eine systemische Herangehensweise.

Als Tiroler Fischereiverband engagieren wir uns u. a. bei Revitalisierungen und Renaturierungen. Oft haben wir jedoch den Eindruck, dass gefühlt auf jede neue Renaturierung 10 neue Gewässerverbauungen kommen. Gibt es hier europäische Zahlen die anzeigen, ob es unter dem Strich zu einer Verbesserung oder Verschlechterung in unseren Gewässern kommt?

Trotz ambitionierter Ziele, wie im Rahmen der europäischen Wasserrahmenrichtlinie, kommen wir nicht voran. In Deutschland hat sich der Anteil der Gewässer, die einen guten ökologischen Zustand bzw. ein gutes ökologisches Potenzial aufweisen, seit dem Jahr 2000 von acht auf gerade mal neun Prozent erhöht. Bei dieser Geschwindigkeit benötigen wir 1800 Jahre, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Und der ungebremste Ausbau an Kleinkraftwerken ist ökologisch fatal und wirtschaftlich fragwürdig. Diese tragen fast nichts zur Energiesicherung bei, führen aber zum Verlust vieler noch frei fließender Abschnitte. Zwar kann ein Kleinkraftwerk einen recht geringen Effekt haben, aber wenn sie dann fünf oder mehr Kleinkraftwerke in einem Flusssystem haben, dann hat dies kumulative Konsequenzen. Und diese werden nicht bewertet.

Wie lässt sich das Artensterben aufhalten? Sie haben einmal von einem Schulterschluss gesprochen, den Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und die Gesellschaft vollziehen muss. Was meinen Sie damit?

Die Wissenschaft liefert die Evidenzen und hilft bei der Entwicklung von Lösungsoptionen, die Politik und die gesellschaftlichen Akteure sind für die Umsetzung verantwortlich. Insgesamt benötigt es einen partizipativen Ansatz, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen – weg von partikulären Interessen. Dass das geht, zeigt die Schweiz: Hochwasserschutz und Naturschutz gehen dort Hand in Hand. Und die erforderlichen Umweltverträglichkeitsprüfungen müssen von unabhängigen Institutionen, die den Menschen und nicht den Betreibern dienen, durchgeführt werden. Um zum Beginn zurückzukehren: Wir zerstören unsere Lebensgrundlage und insbesondere jene künftiger Generationen.

Prof. Dr. Klement Tockner ist ein international führender Gewässerökologe. Schwerpunkte seiner Forschung sind Biodiversität, Flussgebietsmanagement und die Bedeutung der Wissenschaften für die Gesellschaft. Aktuelle Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. die Ökologie trockenfallender Flüsse, die Konsequenzen großtechnischer Infrastrukturprojekte (z. B. Dämme, Wasserumleitungen) weltweit sowie die Koppelung der biologischen und der kulturellen Vielfalt.

Er ist zudem Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und Professor für Ökosystemwissenschaften an der Goethe-Universität, Frankfurt am Main (seit 2021). Er war Präsident des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (2016–2020), Professor für Aquatische Ökologie an der Freien Universität Berlin (2007–2020) und Direktor des Leibniz Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), Berlin (2007–2016). Er promovierte in Zoologie und Botanik an der Universität Wien (1993) und erhielt eine Titularprofessur an der ETH Zürich (2005).